"Was meinst du mit Klarheit?"

Die Tochter bleibt neugierig. (Fortsetzung von hier.)

Diesmal antwortet ihre Mutter: "Wenn du klar weißt, was du willst und was nicht, kannst du das auch klar kommunizieren. Zum Beispiel dem Jungen in der Schule eine Grenze setzen, so dass er merkt, dass du das nicht mit dir machen lässt."

Nicht nur das", sagt der Vater. Er schaut die Mutter an und fragt: "Ist es ok, wenn ich das Beispiel von Jesus erzähle, über das wir uns neulich unterhalten haben?"

"Na klar, auch wenn mir Alltagsgeschichten von lebenden Menschen lieber sind als Rabbi-Witze oder Geschichten aus der Bibel."

"Ja, deswegen frage ich. Danke dir. Ich schätze einfach die Weisheit in diesen Geschichten, egal ob sie wahr sind oder nicht."

"Wie kann eine Geschichte wahr sein?", fragt die Mutter.

Der Vater wendet sich an seine Tochter: "Siehst du, das ist Klarheit. Geschichten sind Geschichten. Sie haben keine Bedeutung und oft wenig zu tun mit den Fakten. Wir machen die Bedeutung, und die dient oft unseren unbewussten Überlebensmechanismen und wirkt dann eher zerstörerisch. Auch das zeigt die Geschichte von Jesus, die ich gern teilen möchte. Magst du sie hören?"

"Klar, jetzt hast du mich neugierig gemacht", sagt die Tochter.

"Hab ich das gemacht oder bist du neugierig, also hast du dich dafür entschieden?"

"Oh, woher soll ich das wissen?", fragt die Tochter irritiert.

Die Mutter bringt Klarheit rein: "Das ist eine Wahl, die du hast. Zwischen der Opfergeschichte 'du hast das gemacht und jetzt bin ich so' und der verantwortlichen Geschichte 'ich bin neugierig, weil ich mich dafür entscheide, mehr wissen zu wollen, dazuzulernen, zu wachsen...'"

Der Tochter dämmert es langsam: "Also du meinst, beides sind Geschichten, beide können daher nicht wahr sein, und ich kann einfach wählen, was mir besser gefällt?"

"Ja genau. Zum Beispiel, was dir mehr Kraft gibt, mehr Freiraum, mehr Selbstwert, Selbstliebe oder was auch immer sich dein Sein und dein Herz gerade jetzt wünschen", stimmt die Mutter zu.

"Also dann würde ich die Geschichte von Jesus sehr gern hören, weil ich neugierig bin, was ich davon lernen kann über Klarheit", sagt die Tochter zum Vater.

"Großartig. Da ist dieser schwerkranke Mann auf einer Bahre an einem Teich, der Heilkräfte haben soll. Jesus sieht ihn und fragt: 'Willst du gesund werden?' Weißt du, was der Mann antwortet?"

Die Tochter überlegt. Auch wenn sie nicht kirchlich engagiert waren, so schätzten ihre Eltern doch die Weisheit der Bibel, insbesondere die von Jesus, und hatten sie schon früh an den Geschichten teilhaben lassen.

"Sagt er nicht so etwas wie, dass er keine Chance hat, sich hineinzuschleppen, weil die vielen anderen Kranken, die dort lagern, alle schneller wären? Aber das ist ja auch eine Opfergeschichte, oder?"

"Stimmt", sagt der Vater. "Deswegen habe ich die Geschichte, dass Jesus vielleicht vor der Heilung noch etwas gesagt hat, was uns die Bibel leider verschweigt. So etwas wie: 'Das ist nicht die Antwort auf meine Frage. Meine Frage war: Willst du gesund werden?' Und genau das ist auch Klarheit. Klarheit und Liebe gibt Heilung. Stell dir vor, dieser kranke Mensch erlebt sich so wertgeschätzt und gesehen, dass er in voller Klarheit sagt: 'Ja, ich will gesund werden!' Ich bin fest überzeugt, dass das die Essenz von jeder Wunderheilung ist."

"Ui, heißŧ das, alle Kranken sind selbst schuld?", fragt die Tochter.

"Nein, um Himmels willen", wehrt der Vater entsetzt ab, "ich würde nie über einen anderen Menschen urteilen und davon abgesehen ist Schuld, egal, ob du andere für schuldig hältst oder dich selbst, fast schon das Gegenteil von Klarheit und Liebe. Es ist nur so: Durch klare Wahl deiner Geschichten entsteht mehr Möglichkeit."

© 2025 Georg Pollitt
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