"Was ist Liebe?"

...fragt die 12-Jährige beim Sonntagsfrühstück.

"Liebe", antwortet der Vater, "ist, wenn der Rabbi sich beide Seiten genau anhört und zu beiden Männern, die sich im Streit befinden, sagt: 'Du hast Recht.' Ein Unbeteiligter bekommt das mit und sagt zum Rabbi: 'Wie können beide Recht haben? Sie vertreten doch völlig entgegengesetzte Positionen.' Der Rabbi schaut den dritten Mann an und sagt: 'Du hast Recht.' "

"Ach du mit deinen Rabbi-Witzen", schaltet sich die Mutter ein, "das ist doch nicht Liebe. Liebe ist ein Gefühl, das ich tief im Herzen spüre, wenn du mir spontan Blumen mitbringst."

"Ist das nicht eher Freude und Dankbarkeit?", fragt der Vater nachdenklich. "Was ich an unserer Liebe schätze ist, dass sie größer ist als diese aufgeregte Freude, wenn wir etwas Neues miteinander erleben. Letzteres ist natürlich cool und fühlt sich wie unser erstes Verliebt Sein an, sogar oder ganz besonders, wenn das Neue ein überwundener Konflikt ist.

"Doch neulich, als du zu mir gesagt hast: 'Du hast Recht', als ein Teil von mir unbedingt gewinnen und Recht haben wollte, da war ich zutiefst berührt. So viel bedingungsloses 'Ja' von deiner Seite, dass meine erste innere Reaktion war: 'Das hab ich nicht verdient'.'

"Das ist für mich Liebe. Nein, die lässt sich nicht verdienen, und gleichzeitig ist es das unveräußerbare Menschenrecht jedes Menschen, jedes Lebewesens, bedingungslos angenommen und geliebt zu sein."

Er wendet sich an seine Tochter: "Das ist es, was wir versuchen dir zu schenken, trotz und mit all den Fehlern, die wir dabei machen. Manchmal gehen wir uns gegenseitig auf die Nerven, streiten, schimpfen, schmollen, lauter Reaktionen unserer unbewussten Überlebensmechanismen. Doch in der Tiefe unseres Seins gibt es nur Verbundenheit und Liebe."

"Reichst du mir mal die Butter", sagt die Mutter und fährt fort: "Ihr seid schon zwei richtig coole Socken."

"Eher drei coole Socken", stimmt der Vater lachend mit ein, während er ihr die Butter reicht. "Ich bin so froh, dass wir gerade zusammen sitzen, essen, uns über tiefgründige Themen unterhalten und Spaß miteinander haben."

Die Tochter lacht mit und fragt dann weiter: "Müssten wir nicht in der Schule lernen, wie wir solche unbewussten Muster überwinden?"

"Oh ja, das wäre mal eine echte Revolution. Wie sähe unsere Welt wohl aus, wenn Menschen sich nicht mehr von ihren Überlebensängsten beeinflussen lassen?"

"Ich fürchte", stimmt die Mutter ihrem Mann zu und wendet sich an ihre Tochter, "du wirst selbst Wege finden müssen außerhalb der Schule. So gut wir können, unterstützen wir dich dabei. Wir sind ja auch auf diesem Weg, auf der Suche nach Wachstum und Transformation hin zu mehr Liebe, die durch uns fließen und durch uns wirken kann."

"Zum Glück gibt es inzwischen immer mehr Angebote, die sich auf lebendige Gefühle ausrichten statt aufs Überleben der selbstgebauten Gefängnismauern", fügt der Vater hinzu.

Die Tochter ist nicht ganz überzeugt: "Wenn mich der Typ in der Klasse, ihr wisst schon wer, dauernd ärgert, soll ich ihn dann einfach lieben und alles erdulden?"

"Natürlich nicht!" Der Vater ist erschrocken, weil er sich plötzlich vorstellt, dass seine Tochter alles mit sich machen lässt. "Bedingungsloses Annehmen ohne Bewertung ist nur ein Aspekt von Liebe. Ein anderer ist Klarheit."

© 2025 Georg Pollitt
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